Impulsinterview | Dr. Christiana Gungl

C.Gungl_BANNER-min.jpg

Als langjährige Hausärztin mit psychotherapeutischer Ausbildung hütet Dr. Christiana Gungl einen wertvollen Erfahrungsschatz. In ihrem Beruf darf sie tagtäglich Balance herstellen, denn Kranksein heisst, dass in einem Menschen etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Bei einer Tasse Tee erzählte sie uns, welche zentrale Rolle „Lebensbalance“ in der Allgemeinmedizin spielt.

 
„Leben im Gleichgewicht“ - was heißt das für dich?
Mein persönliches Gleichgewicht bedeutet für mich: mit mir im Einklang sein, innere Ruhe haben, ausgeglichen sein im Geben und Empfangen. Das erfordert gutes Sorgen für mich, d.h. Wahrnehmen meiner Bedürfnisse, und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Meinen Beruf übe ich mit großer Freude aus und ich erlebe ihn als wichtigen sinngebenden Lebensinhalt.
Als Frau, Mutter und Großmutter gestalte ich auch das Familienleben über die Generationen hinweg mit, dies ist mir ein großes Herzensanliegen und macht viel von dem erwähnten Geben und Empfangen aus. 
Voraussetzung für ein Leben im Gleichgewicht ist meines Erachtens jedoch der soziale Friede in unserer demokratischen Gesellschaft, der die Freiheit des Einzelnen und ein Leben in Gerechtigkeit und Sicherheit ermöglicht.
Ist ein Leben im Gleichgewicht überhaupt möglich?
Ich glaube, in vielen Momenten: ja.
Ich denke, dass Leben immer Bewegung ist, sodass es ein ständiges Bemühen um Gleichgewicht braucht, sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Mir fällt dazu das Bild der Waage ein, die ja auch jederzeit aus dem Gleichgewicht geraten kann und sich neu einpendeln muss.
— Christiana Gungl
 
Was kannst du aus beruflicher Sicht als Ärztin für Allgemeinmedizin dazu sagen? Wie bringst du eine Balance in der Behandlung von PatientInnen zustande?
Das Menschenbild in der heutigen Medizin ist dreidimensional: bio-psycho-sozial und ich würde auch die spirituelle Ebene hinzufügen. Patient sein heißt leidend sein und aus dem Gleichgewicht gebracht auf einer oder mehreren dieser Ebenen. Eine rein körperliche Veränderung erfordert die Behandlung auf der biologischen Ebene. So benötigt ein gebrochener Arm einen Gipsverband. Leidet jemand an Depressionen, so wird ihm je nach Schwere der Erkrankung eine psychotherapeutische Hilfe angeboten, eventuell erweitert um Medikamente. Aber auch Einsamkeit, Kränkung oder Streit können krankmachen, hier braucht es die Organisation sozialer Unterstützung und mitmenschlicher Vermittlung. Spirituelle Themen kommen v.a. bei Lebensübergängen und am Lebensende zur Sprache. Meine Aufgabe ist es, zu erkennen woran der Mensch leidet und ihm die entsprechende Behandlung zu geben, d.h. wieder Gleichgewicht zu ermöglichen.
In der Begegnung mit Patienten ist es mein größter Wunsch, dass sich die Menschen von mir wahr- und ernstgenommen fühlen in ihrem Leiden. Gleichzeitig ist auch das Erkennen der gesunden Anteile für das Wiedererlangen des Gleichgewichts wesentlich. Ohne Förderung der gesunden Anteile der Person ist jede Medizin unzureichend.
— Christiana Gungl
Wie sieht ein "perfekter Tag" für dich aus?
Wenn in der Arbeit Gutes gelingt und dann noch Zeit bleibt für Bewegung in der Natur, für die Gartenarbeit und Pflege der Freundschaften. Und wenn in der Familie gelacht werden kann – dann fühle ich mich im Gleichgewicht und erlebe Momente der Freude und des Glücks.
 
Welchen großen Wunsch hattest du als Kind? Ist dieser irgendwann in Erfüllung gegangen?
Als 10-jährige hatte ich eine Lehrerin, eine Klosterschwester, die uns mit viel Begeisterung, Freude und Engagement unterrichtet hat. So wollte ich auch werden und dieser Wunsch hat mir als Mädchen aus einer kinderreichen Familie den Besuch des Gymnasiums ermöglicht. Der Wunsch, Ärztin zu werden, ist einige Jahre später gereift.
Was wünschst du dir für die Zukunft? 
Ich wünsche mir einfach Gelassenheit - auch in Bezug aufs Älterwerden.
Gibt es ein Zitat, das dir besonders gefällt? Und wenn ja, warum?
Von Albert Camus stammt das Zitat, das auf die unzerstörbaren gesunden Anteile in jedem hinweist:
IMG_9702.jpg

„Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt.“

— Albert Camus